Wasser
 
 
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Das Wasser

»Am Wasser saß sie
es troff ihr Herz
klein war der Schmerz«

Stundenlang konnte A im Wasser sitzen, sich leer denken. Die Wellen im Leib spüren. Einverstanden sein. Aber den Kopf unter Wasser stecken, es in Augen und Ohren dringen zu lassen, war ihr zuviel. Im Urlaub hatte sie auf dem Schiff eine Krankenschwester kennengelernt, die Taucherin war. Weder fürs Krankenschwester-Dasein noch fürs Tauchen wäre A zu begeistern gewesen, aber die Kombination leuchtete ihr ein.
Das Badewasser ist eingelaufen, duftet nach Rosmarin. A steigt vorsichtig ins Wasser, taucht das rechte Bein ein, heiß, setzt den anderen Fuß in der Höhe des Knies an, läßt ihn am Bein entlang über den Widerstand der Härchen auf den Boden gleiten. Schaudert angestrengt und senkt sich in die Hocke, bis das Wasser den Po netzt, die Hitze ihn anfällt, dann aufnimmt, sie läßt sich aufplumpsen, streckt die Beine aus, hält inne.
Genauso unverständlich wie die Schnellaufsteher sind A die Heißwasserbadenden. Und die Schlingfrühstücker.
Als Kind hat A nie verstehen können, warum die Erwachsenen keine Schwimmtiere mit ins Wasser nehmen und baden, um sich zu waschen. Statt um zu spielen. Der Abgrenzungszwang. Nie begreifen konnte sie, die anderen...
Wie sie als Kind »die anderen« haßte. Diese beliebig einsetzbare Erziehungsmasse.
Die anderen Kinder üben jeden Tag zwei Stunden Klavier. Die anderen Kinder lernen regelmäßig ihre Vokabeln.
Die anderen als Gegenbild. Vorbild. Das Gegenbild als Vorbild. Eigentlich keine angreifbare Haltung. Aber Gegenbild im Sinn der Herrschaft. Hat das Kind A die anderen zum Beleg seiner Wünsche herangezogen, war das Gegenbild nicht mehr Maßstab: »Was alle machen, mußt du nicht unbedingt auch machen«. Auch keine angreifbare Haltung. Aber eingenommen im Sinn der Herrschaft. Verkommen.

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